Zwanglosigkeit vs. Losgelassenheit - Was ist das und warum kann das eine ohne das andere nicht funktionieren?
- Janine

- 7. Nov.
- 6 Min. Lesezeit
Wir alle wünschen uns in unserem Pferd einen gelassenen, entspannt arbeitenden Partner - denn das ist die Grundlage für Freude, Sicherheit und langfristige Gesundheit im Reitsport. In diesem Beitrag erkläre ich dir, was Zwanglosigkeit und Losgelassenheit praktisch bedeuten, wie du beide erkennst, welche Ursachen und Zusammenhänge es gibt und welche Übungen und Fehler du vermeiden solltest, damit dein Pferd nachhaltig und pferdegerecht daran gewinnt.
Zwanglosigkeit - was ist das überhaupt?
Der Begriff der Zwanglosigkeit wird im Hinblick auf die Ausbildungsskala gerne vergessen. Dennoch ist er immens wichtig, denn ohne dass ein Pferd zwanglos ist, kann es niemals losgelassen sein. Zwanglosigkeit ist also somit die Voraussetzung für die Losgelassenheit.
Ein zwangloses Pferd beschreibt ein Pferd, dass mental wie körperlich entspannt ist - ohne Stress, ohne Widerstand, ohne Anspannung.
Ein Pferd, das im Weideschritt über die Koppel spaziert verhält sich zwanglos. Es zeigt keine Anzeichen von Sympathikus-Aktivität, Maul und Gesichtausdruck sind entspannt, der Schweif pendelt locker, es wehrt sich nicht und zeigt keine Flucht- oder Abwehrreaktionen. Man könnte sagen, es "schlendert" vor sich hin, oftmals mit langer Oberlinie und eher niedrigem Muskeltonus.
Es ist dabei nicht einfach nur "brav", sondern reell entspannt und aufnahmebereit. Schau dir gerne das kurze Video an - hier siehst du ein Jungpferd bei der Gewöhnung an eine neue Arbeitsumgebung. Zwangloses "durch die Gegend schlendern" und die Umgebung erkunden ist ein wichtiger Punkt, bevor wir in die "richtige" Arbeit starten können.
Der Übergang von der Zwanglosigkeit in die Losgelassenheit ist durchaus fließend. Wichtig ist aber: Ohne Zwanglosigkeit keine Losgelassenheit. Bevor mit gezieltem Training beginnen muss das Pferd überhaupt in der Lage sein, zuzuhören. Denn nur wer zuhört, kann auch lernen.
Ein Pferd, das innerlich blockiert (also noch nicht zwanglos ist) kann keine feine Hilfen annehmen, keine Balance finden und keine echten Fortschritte machen.
Losgelassenheit - was ist das überhaupt?
Die klassische Ausbildungsskala ist eine Reihenfolge von Ausbildungselementen, die aufeinander aufbauen: Takt → Losgelassenheit → Anlehnung → Schwung → Geraderichtung → Versammlung.
Losgelassenheit steht direkt nach dem Takt, weil ein gleichmäßiger Rhythmus allein noch keine "echte" Arbeit durch den Körper ermöglicht. Wenn Losgelassenheit fehlt, sind komplexe Lektionen sinnlos. Erst wenn das Pferd losgelassen ist, kann es:
eine gleichmäßige und verlässliche Anlehnung zulassen,
Schwung aus der Hinterhand aufnehmen und
Geraderichtung wirklich erarbeiten, weil es auf feine Hilfen reagiert,
schließlich an Versammlung und Tragkraft arbeiten, ohne die Gesundheit zu gefährden.

Ein losgelassenes Pferd nutzt seinen Körper, es geht "über den Rücken", zeigt weiche Kaumuskulatur und einen entspannten Gesichtsausdruck und einen gleichmäßigen, taktmäßigen Gang.
Losgelassenheit ist messbar in Atmung, Muskeltonus, Takt und Rückenbewegung.
Ohne Losgelassenheit verliert die gesamte Skala ihre Grundlage: Versuche, Schwung oder Versammlung zu erzwingen, führen meist zu Widerstand und langfristigen Problemen.
Warum ist es so wichtig, dass Pferde zwanglos und losgelassen sind?
Das Nervensystem des Pferdes besteht, wie das menschliche Nervensystem, aus dem Parasympathikus und dem Sympathikus. Beide sind wichtig zur Versorgung und Steuerung der Organfunktion und haben unterschiedliche Aufgaben:
Parasympathikus (Ruhenerv) | Sympathikus (Arbeitsnerv) |
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Wichtig für die Entstehung von Zwanglosigkeit ist somit die vermehrte Aktivität des Parasympathikus. Hierdurch kommt das Pferd in die Entspannung, Verdauungsprozesse finden statt und das Pferd regeneriert. Pferde die vorwiegend im Parasympathikus sind, können sich beispielsweise mit neuen Aufgaben konstruktiv auseinandersetzen - sie werden "gruseligen" Dinge also neugieriger und offener entgegentreten als ein Pferd, das im Sympathikus steckt. Dieses wird eher dazu neigen, sein Heil in der Flucht zu suchen - hier dominiert das Instinktverhalten.
Pferde mit hoher Sympathikus-Aktivität neigen zudem zu erhöhter Oberlinienspannung - Kopf und Hals werden erhöht getragen um sich Überblick zu verschaffen. Der Körper ist "fluchtbereit". Im Training möchten wir jedoch ein Pferd, dass konzentriert und "ansprechbar" ist, das sich in der Oberlinie dehnt und den Weg nach vorwärts-abwärts sucht.
Kurz: Parasympathische Aktivität bildet die physiologische Grundlage für echte Losgelassenheit — körperlich wie emotional — und ist damit zentral für nachhaltige, pferdegerechte Ausbildung.
Fehlt die Losgelassenheit, entstehen hingegen kompensatorische Spannungen, schiefe oder fluchtartige Reaktionen, schneller Verschleiß und eingeschränkte Leistungsfähigkeit. Nur in körperlicher und mentaler Entspannung kann ein Pferd dauerhaft muskulär aufbauen, sich korrekt tragen und fein auf Hilfen reagieren.
Zwanglosigkeit und Losgelassenheit haben somit Einfluss auf
Gesundheit: Dauerhafte Spannung führt zu Verspannungen, Rückenproblemen und Fehlbelastungen
Lernfähigkeit: Ein entspanntes Pferd lernt schneller und verknüpft Training positiv.
Sicherheit: Zwangslosigkeit reduziert unvorhersehbare Reaktionen wie Steigen oder Durchgehen.
Leistung: Nur ein losgelassenes Pferd kann langfristig korrekt tragen und sich verbessern.
Zwanglosigkeit und Losgelassenheit sind die Basis, auf der gesunde, dauerhafte und effektive Reiterei erst möglich wird.
Wie du Zwanglosigkeit und Losgelassenheit erkennst
Kopf und Hals: weiche Kaumuskulatur; lebhaftes Ohrenspiel, entspannter Gesichtsausdruck, mittlere bis tiefe Kopf-Hals-Position, lockere Nick- und Pendelbewegung im Schritt
Rücken: spürbar schwingender, entspannt arbeitender Rücken; kein "wegdrücken" oder harter, blockierter Rücken.
Gangbild: gleichmäßiger Takt; saubere Übergänge ohne Hast oder Stocken
Atmung: ruhige, regelmäßige Atmung während der Arbeit; bei Anstrengung moderate Erhöhung, die sich in Ruhephasen schnell wieder normalisiert
Körpersprache: keine ständige "Fluchtbereitschaft" oder Wehrigkeit, keine Stressanzeichen
Reaktion und Konzentration: feine, sofortige Reaktionen; konzentriert und aufnahmefähig
Erholung: nach intensiver Arbeit schnelle Erholung von Puls und Atmung, keine anhaltende Schweißbildung an unpassenden Stellen.
Tipp: Nimm dein Pferd und Dich gerne mal für 10 Minuten auf Video auf. Beobachte dabei gezielt Anzeichen von Zwanglosigkeit und Losgelassenheit. Notiere dir, wann dein Pferd diese zeigt und wann vielleicht noch nicht. Im Anschluss kannst du Ansatzpunkte suchen, weshalb deinem Pferd in dieser Situation noch keine Losgelassenheit möglich war.
Trainingsprinzipien für Zwanglosigkeit und Losgelassenheit
Gut durchdachte Trainingsprinzipien sind die Grundlage dafür, Zwanglosigkeit im Training zu erhalten und Losgelassenheit nachhaltig zu fördern. Es geht dabei weniger um schnelle Tricks als um einen systematischen Aufbau. Ein pferdegerechter Rhythmus aus Verlässlichkeit, Variation und positiver Verstärkung schafft Vertrauen, reduziert Stress und ermöglicht, dass das Pferd sich körperlich und psychisch auf die Arbeit einlassen kann.
Konstanz und Klarheit: sichere, einfache Hilfen und ein konsistenter Trainingsaufbau.
Positive Verstärkung: Lob, kurze Pausen und einfache Erfolgserlebnisse schaffen Vertrauen.
Übungsauswahl: Übergänge, Schenkelweichen und Stangentraining sowie auch das Longieren als Dialog nach OsteoDressage fördern Losgelassenheit und Dehnungsbereitschaft.
Kleine Schritte: kurze, häufige Einheiten statt lange monotone Arbeit.
Regelmäßige Erholung: ausreichend Regenerationszeiten und gezielte Lockerungsarbeit.
Je nachdem wie sensibel das Pferd ist, reicht auch bereits der Stress des Reiters aus, um Stress im Pferd auszulösen. Wir stehen häufig unter Druck und sind innerlich angespannt. Kommen wir aus unserem gestressten Alltag, sind mit den Gedanken noch auf der Arbeit oder schon beim nächsten wichtigen Termin, so übertragen wir diese innerliche Anspannung unmittelbar auf unser Pferd. Wichtig für ein losgelassenes Pferd ist somit immer auch ein losgelassener Reiter.
Wann Hilfe von außen sinnvoll ist
Ursachen für fehlende Zwanglosigkeit liegen fast immer darin, dass das Pferd Schmerz oder Unbehaben empfindet. Das wiederum kann ganz unterschiedliche Gründe haben:
Schmerzzustände (Zähne, Rücken, Hufe, Sattel...)
Schlechte Balance oder muskuläre Schwäche
Falsche Hilfengebung: zu grobe Hände, unklare Kommunikation
Überforderung durch falsches Timing oder unangemessene Einheitenlänge
Negative Lernerfahrungen
Pferde, die nie in die Zwanglosigkeit kommen, haben mit ziemlicher Sicherheit ein Problem - sei es physisch oder psychisch. Was nie hilft, ist "durchhalten" oder "drüber arbeiten". Zu viel Druck oder falsche Herangehensweisen können das Problem eher verschlimmern anstatt verbessern.
Dein Trainer, Trainingstherapeut oder Tierarzt kann dir helfen, Ursachen differenziert zu erkennen und ein maßgeschneidertes Programm empfehlen.
Ich rate somit immer dazu, dir Unterstützung zu holen,
Wenn du Schmerzen oder Lahmheitszeichen vermutest (sieh dir hierzu gerne mein kostenloses Video zur Schmerzerkennung sowie mein Angebot zur Ganganalyse an).
Wenn Fortschritte ausbleiben oder sich Probleme verschlimmern.
Wenn du Schwierigkeiten hast, feine Hilfen zu entwickeln oder dein eigenes Gleichgewicht zu finden.
Wenn das Pferd gehäuft mit Verweigerung oder Flucht reagiert.
Fazit
Zwanglosigkeit und Losgelassenheit sind die unentbehrliche Grundlage für die weitere Ausbildung eines Pferdes. Beides lässt sich durch genaue Beobachtung, schmerzfreie Basis, strukturiertes, fein abgestimmtes Training und konsequente Fehlervermeidung systematisch fördern. Kleine, wiederholbare Erfolgserlebnisse, eine pferdegerechte Ausbildungsskala und die Bereitschaft, Ursachen statt Symptome zu behandeln, führen zu nachhaltigen Ergebnissen und damit auch zu einem motivierten und leistungsbereiten Partner Pferd.
Du benötigst konkrete Unterstützung beim Training deines Pferdes?
Dann wirf doch mal einen Blick auf meine Onlinekurse oder mein Trainingsangebot.
Ich freue mich darauf, auch Dich und dein Pferd auf eurem Weg begleiten zu dürfen!

Grundausbildung, die wirkt —
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